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WELT+  POLITISCHE KULTUR

Deutschland erfasst eine paranoide Grundstimmung

Veröffentlicht am 07.09.2018, Ulf Poschardt Chefredakteur


Für WELT-Chefredakteur Ulf Poschardt hat eine toxische Kommunikation das Land vergiftet

Quelle: Claudius Pflug

Die Politikpietisten sehen fast überall Rechtsradikale. Eine Verständigung über die Lagergrenzen hinaus wird unmöglich. All das hilft den Extremen – und macht die Mitte wehrlos.

Horst Seehofer? Ist eigentlich AfD. Markus Söder? Sowieso. Alexander Dobrindt? Klar. Wolfgang Kubicki? Auch. Thilo Sarrazin? Nazi. Heinz Buschkowsky? Rassist. Alice Schwarzers „Emma“? Rassistisch. Es ist ein interessantes Phänomen, dass es den Politikpietisten der Gegenwart nicht genug Rechtsradikale gibt.

Deswegen verwenden sie – nach den „Pogromen“ von Chemnitz – ihre gesamte Kraft darauf, in den anwachsenden braunen und khakifarbenen Massen möglichst viele Bürgerliche, Liberale und Konservative einzugemeinden, um sie im antifaschistischen Widerstand aus der politischen Kultur mit auszuradieren.

Deutschland erfasst eine paranoide Grundstimmung. Das Gute ist: Wir können es uns erlauben. Die Wirtschaft brummt, der Finanzminister stampft im Geld. Das Land hält also einen komplett gestörten Wahrnehmungsapparat aus. Die Endzeitszenarien von Rechtsaußen sehnen sich nach gewalttätiger Zuspitzung und der Abrechnung mit Maß und Mitte der alten Bundesrepublik.

Gaulands Gefasel von der Revolution ist nur ein Schrei nach Liebe und Aufmerksamkeit, die ihm der Verfassungsschutz künftig spendieren sollte. Der einst differenzierte Konservative hat sich in einen Rausch radikalisiert, weil diese Radikalisierung Umfrage- und wohl auch Wahlerfolge liefern wird. Er, der von der Union Verlachte, rächt sich ähnlich konsequent an seiner alten politischen Heimat wie Oskar Lafontaine.

Aus dem Elfenbeinturm zum politischen Abschuss freigegeben, zeigt der alte, weiße Mann den jungen, bunten Frauen noch mal, was er draufhat. Die Gegenwehr bleibt aus. Gauland und Lafontaine baden im Meer der Abneigung seitens des Establishments. Das Meer lässt sie nach oben treiben.

Provokant könnte man sagen, dass die neue misandrische Leitkultur schon passend hysterisch daherkommt. Hysterisch-protestantisch. Die Erregtheit wird durch einen Sprach- und Zitatfetisch induziert. Die Allergie gegen politisch halb korrekte Gedanken ist einem sprachpolizeilichen Generalverdacht gewichen. Jeder Unterton, jede Spielerei, jeder Funken Humor ist aus dem Sprachverständnis getilgt. Und diese Art von toxischer Kommunikation vergiftet das Land.

Früher war es der Bodensatz in den sozialen Netzwerken, der Zitate bösartig missbrauchte. Heute sind es SPD-Spitzen und Ministerinnen. Zweimal hat es Horst Seehofer erwischt, als er Dinge sagte, die nicht Oskar-Maria-Graf-mäßig elegant formuliert waren, aber Binsen benannten. A): Die Migration ist seit 2015 das zentrale politische Problem. B): Menschen freuen sich, wenn Gefährder das Land verlassen.

Das hat er gesagt, und deswegen gibt es nun Rücktrittsforderungen. Jede emotionale Kopflosigkeit treibt die Volatilität der Debatten. Das hilft am Ende den Extremen, gerade vor allem rechts – und macht die Mitte hilf- und wehrlos. Die große Koalition ist eine kleine geworden. Sie regiert meist erfolgreich, hat aber seit 2015 derart viele Fehler gemacht, vor allem in der Kommunikation mit der Bevölkerung, dass das stumpfe #wirsindmehr (hätten die Nazis das auch 1933 gepostet?) für die beiden ehemaligen Volksparteien nicht mehr gilt.

Die CSU erinnert die CDU an die Partei, die sie irgendwann mal war, und wird deshalb von den Grünen in der Partei, die als „Union der Mitte“ antreten, gehasst. Im Namen dieser Fraktionsfraktion wird der ganze Irrsinn deutlich. In Zeiten, in denen Björn Höcke und Gauland wirklich rechtsradikales Zeug verzapfen, den Konservativen in der Partei als Ethikkommission gegenüberzutreten ist anmaßend, fast irre. Es ist vor allem in einem Ausmaß politisch dumm, das beispiellos ist.


Gauland - „Kann verstehen, dass Menschen ausrasten“

Der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland hat Verständnis für die von ausländerfeindlichen Übergriffen begleiteten Proteste in Chemnitz gezeigt.  Quelle: Reuters

Mussten in den idyllischen Zeiten der Debatten noch nach latenten Restbeständen des Faschistischen akribisch gefahndet werden, gibt es jetzt offen Hitlergrüße, rechtsradikale und rassistische Reden. Da gäbe es genug zu richten, statt sich an Sozialdemokraten wie Buschkowsky und sozialkonservativen Moderaten wie Seehofer abzuarbeiten.

Und als ob das alles nicht schlimm genug wäre, gibt es zwielichternde Behördenchefs wie Hans-Georg Maaßen. Als Präsident einer Bundesbehörde, die mit knapp 350 Millionen Euro etatisiert ist, irrt er durch die politische Landschaft und hinterlässt Unklarheiten, unübersehbar auch eine tief greifende Spur der Illoyalität jener Bundesregierung gegenüber, die ihm in Gestalt des Innenministers aufsichtsberechtigt ist. Sein Zweifel an der Berichterstattung zu Chemnitz mag einen Punkt haben, die Unabgestimmtheit mit der Kanzlerin ist eine weitere Provokation.

Das Land verträgt viel mehr Eskalation nicht. Es wird fragil. Wer weiter eskaliert, würgt sein Land.


 hier nach Bedarf Text, Bilder und Tabellen ein.